Die "Corona-Krise" – Materialien und Positionen zu einem notwendigen Diskurs

Was können wir derzeit nicht alles erleben: Da wird der "Krieg" ausgerufen (Emmanuel Macron, Donald Trump) , zumindest aber der "Kampf", da wird von der "größten Herausforderung an unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg" gesprochen (Angela Merkel) , da wird allerorten das "gemeinsame solidarische Handeln" beschworen und der "Gemeinsinn" eingefordert. Umfassend soll sie sein, die "Anti-Viren-Front", verbunden mit der Sehnsucht nach dem starken Staat, der "uns" durch die Krise führt. Nichts mehr soll so sein, wie es vor der Pandemie war. Wirklich?
"Solidarität" und "Gemeinsinn" – für wen und mit wem?
Stehen nun alle tatsächlich allein und verwundbar vor dem Virus? Hier bei uns und im Globalen Süden? Und die Menschen in den Kriegsgebieten, im Jemen, in Syrien, die Menschen an den Grenzen und in den Flüchtlingslagern an der europäischen Peripherie, hoffnungslos zusammengepfercht und doch gnadenlos allein? Inbegriff einer beispiellosen Inhumanität in einem Kontinent, in dem politisch so gern beschworen wird, dass die "Würde des Menschen unantastbar" sei. Unantastbar? Nein, an jedem Tag, in jeder Stunde, in jeder Minute antastbar. Gilt "Solidarität" und "Gemeinsinn" nur für Deutsche? Und die cubanischen, chinesischen und russischen Ärzte und Pflegekräfte, die mitten in den Krisengebieten Norditaliens an der "Virusfront" stehen? Interpretieren und praktizieren sie Solidarität und Gemeinsinn nicht ganz anders?
Die Zeit jetzt und danach: In welcher Welt sollen, können und wollen wir leben?
Wir wollen als "Ulmer Netz für eine andere Welt" über allen Ausgangsbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen nicht vergessen, wie es um die Welt jenseits der Virologenmeldungen steht. Wenn schon keine öffentlichen Veranstaltungen, keine öffentlichen Diskurse über die brennenden Themen möglich sind, wollen wir zumindest versuchen, Materialien und Positionen zusammenzustellen, um in entschleunigten Zeiten die Chance zu bieten, nachzudenken, kritisch zu befragen und zu hinterfragen, scheinbar "selbstverständliches" Denken und Handeln auf seine Selbstverständlichkeit hin zu überprüfen. Soll es "danach" wirklich so weitergehen, wie es vorher war? Wieder nur schneller, höher, weiter? Wirklich, scheinbar "realpolitisch"? Der Zukunftsforscher Matthias Horx: "Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn ‚vorbei sein wird‘ und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Diese Zeiten sind jetzt."
Beiträge aus den Medien zur Corona-Situation
01.05.2020, der Freitag – Jakob Augstein: Bizarre Büten
28.04.2020, SPIEGEL – Margarete Stokowski: Die Argumente der Lockdown-Lockerer: Ist ja nur das Leben
24.04.2020, TAZ – Frédéric Valin: Corona und das Ende der Solidarität: Leben und sterben lassen
16.04.2020, ZEIT – Petra Pinzler: Und was ist mit dem Klima?
14.04.2020, FR – Stephan Hebel: Keine Hilfe für Geflüchtete in der Corona-Krise: Die Solidarität der Egoisten
12.04.2020, FR – Stephan Lessenich: Corona-Krise: Was Solidarität auch meinen könnte
12.04.2020, SPIEGEL – Sibylle Berg: Bankrotterklärung der Meschlichkeit
11.04.2020, der Freitag – Kathrin Hartmann: Der Markt macht’s nicht
08.04.2020, SPIEGEL – Jakob Augstein: Angst frisst Demokratie
06.04.2020, Springer Pflege – Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19
06.04.2020, SPIEGEL – Nils Klawitter: Die Vergessenen der Coronakrise
06.04.2020 SPIEGEL – Flüchtlinge in der Türkei: Die Welt hat euch vergessen
05.04.2020, SPIEGEL – Christian Stöcker: Das hier ist kein Krieg
04.04.2020, FR – Harald Salfellner: Der Globalisierungswahn hat nicht bedachte Risiken
03.04.2020, der Freitag – Dierk Hirschel: In der Krise sind alle Keynesianer
03.04.2020, der Freitag – Michael Jäger: Nicht mehr die Demokratie, die wir kennen
03.04.2020, FR – Daniel Dillmann: Populisten versagen in der Krise
April 2020, Initiative Lieferkettengesetz – Die Corona-Krise im Globalen Süden: Dramatische Zustände am Anfang der Lieferketten
April 2020, mecico international – Corona-Dossier: Solidarität in Zeiten der Pandemie
April 2020, Blätter für deutsche und internationale Politik – Ulrich Menzel: Der Corona-Schock
April 2020, Inkota Netzwerk: Nachrichten aus dem Globalen Süden
29.03.2020, ZEIT – Lenz Jacobsen: Alle kontrollieren alle
29.03.2020, FR – Paul Nolte: Corona-Krise - Gefahr für die Demokratie?
28.03.2020, SPIEGEL – Hans-Jörg Sigwart: Logik der reinen Effizienzpolitik. Pandemie, Demokratie und Utopie
27.03.2020, medico international: Solidarität in Zeiten der Pandemie
27.03.2020, medico international: Corona machts möglich: Stopp des Lieferkettengesetzes
26.03.2020, der Freitag – Thomas Gebauer: Operation gelungen, Patient unfrei
26.03.2020, der Freitag – Stephan Hebel: Die Anti-Viren-Front
22.03.2020, FR – Bernd Hontschik: Sind wir auf dem Weg in die Gesundheitsdiktatur?
19.03.2020, der Freitag – Kathrin Hartmann: Das kommt nicht von außen
18.03.2020, SPIEGEL – Sascha Lobo: Wider die Vernunftpanik
14.03.2020, Junge Welt – Franz Dobler: Da hilft kein Händewaschen
Kommentare
Susanne Bosch
10. April 2020 - 18:13
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Ausgangssperre oder nicht? Das ist nicht allein die Frage!
Zum ersten Artikel"Das hier ist kein Krieg":
"....Ist der Tod zu telegen?
Jakob Augstein gab in der gleichen Talkshow zu bedenken, dass sich all die Einsamen und Depressiven in ihrer häuslichen Isolation eben "schlechter bebildern" ließen als das Sterben auf Intensivstationen, und man doch schon deshalb langsam mal über eine Lockerung der Distanzierungsmaßnahmen nachdenken müsse."
Ja, häusliche Gewalt, die Zunahme psychischer Störungen u.v.a.m. ist ein Problem.
Aber: Das heißt jedoch nur, dass es mit "Wegsperren" allein getan ist, sondern, dass die Arbeit und die Aufmerksamkeit weiter gehen muss:
Mit großer Sorge beobachtet die Deutsche Gesellschaft für Psychologie die Auswirkungen der Coronakrise auf die Situation von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen und auf Kinder von psychisch kranken Eltern. Durch die bundesweiten Ausgangsbeschränkungen und die flächendeckenden Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen sind viele Familien in einer schwierigen Lage.
Dazu Hinweise und Forderungen des Kinderschutzbundes, etwa zur Notwendigkeit der Notbetreuung von psychisch kranken Kindern und Kindern von psychisch kranken Eltern in Kindertagesstätten und Schulen während der Coronakrise oder etwa die Forderung der Frauenhauskoordinierung, dass gewaltbetroffene Frauen und Kinder gerade jetzt zuverlässig Schutz und Hilfe erhalten müssen.
Mit einer Lockerung allein ist es nicht getan:
Besonders betroffen sind - wie so oft- die Ärmsten: Obdachlose, Straßenkinder und Menschen, die in Flüchtlingslagern leben. Tagelöhner und arme Familien in vielen Ländern hungern bereits, denn sie haben mit den Ausgangssperren ihr ohnehin mageres Einkommen verloren. Dann ist es nur noch die oft zitierte Wahl zwischen "Pest und Cholera".
Ausgangssperre oder Aufhebung ist nicht allein die Frage. Es ist auch die Frage, welchen Personen was zugemutet wird und was das für Auswirkungen hat. Hier kann es keine globale Antwort geben, aber eine globale Verantwortung, Aufmerksamkeit und Sensibilität.
Dr. Bernhard Schwilk
22. April 2020 - 18:00
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Corona: Zahlen und Ethik
Und schon wieder Zahlen; sind aber wichtig.
Quellen:
Gesundheitsberichterstattung des Bundes (gbe)
Science Media Center Germany
DIVI-Intensivregister
Berichte und Originalarbeiten aus dem Deutschen Ärzteblatt (u. a.: 2019; 116: 653 - 660: Hospitalisierung und Intensivtherapie am Lebensende)
andere
X ICU-Plätze D: strukturell „eigentlich“: 28.031; aktuell lt. Register: 31.244 (anlässlich Covid aufgestockt), von denen aktuell 40 % frei sind (üblicherweise: ca. 20%). Reserveoption bei Bedarf: noch etliche Tausend!
X Intensivbehandlungsfälle in „normalen Jahren“ p. a. 2.130.000; davon 430.000 beatmet
X Behandlungstage ICU: ca. 8 Mio.
X Mittlere Verweildauer ICU: 3,8 Tage
X Inanspruchnahme Intensivtherapie 8,2 pro 1000 Einw. ; Tendenz steigend
X Todesfälle in D pro Jahr: 932.000 in 2017; 955.000 in 2018
X Anteil aller Todesfälle in D, die Intensivmedizin in Anspruch genommen haben: 11,8%; Tendenz steigend. Aber immer noch ca. 88 % der Deutschen sterben nicht auf ICU.
X Alter der Intensivpatienten: 71 Jahre im Durchschnitt; Tendenz steigend
X Anteil der Krankenhaustodesfälle an allen Todesfällen: c.a 46 %; Tendenz fallend
X Anteil der Todesfälle im Krankenhaus, die auf der Intensivstation versterben: ca. 25 %; Tendenz steigend.
In den letzten Jahren besonders starke Zunahme: der Anteil der Todesfälle auf der Intensivstation an allen Todesfällen bei Patienten > 85 Jahre
Aktuell gibt es einige Stellungnahmen zu ethischen Fragen (wohl aus aktuellem Anlass).
Hier nur eine ganz kurze und vergröberte Darstellung des Spektrums:
X Mitte März 2020 vom Palliativmediziner Matthias Thönes, Witten: „Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“. Thönes kritisiert die allgemeine öffentliche Fokussierung auf die Intensivmedizin und gibt zu Bedenken, dass bei vielen älteren chronisch Schwerkranken Patienten (also die Risiko-Gruppe bei Covid-19) die Intensivmedizin kaum (Über-) Lebensperspektive bietet, unnötiges Leid verursacht und dem ärztlichen Prinzip zuwiderläuft: sinngemäß: oft schaden wir mit der Intensivmedizin mehr als wir nutzen.
X Ende März 2020 vom Deutschen Ethikrat: „Die Möglichkeiten des Staates, abstrakt bindende Vorgaben für die Allokation knapper Ressourcen zu machen, sind somit begrenzt“. Verweist auf die Funktion der Fachgesellschaften, die „wichtige Orientierungshilfen“ geben sollten, welche über das hinausgehen, was staatlicherseits zulässig wäre. „Unfaire Einflüsse bei der Entscheidung“ (bei knappen Ressourcen) im Hinblick auf "sozialen Status, Herkunft, Alter, Behinderung" …sollen ausgeschlossen werden.
X Die Arbeitsgruppe mit Autoren der Charité (Publikation im ÄB; 2019; siehe oben) stellt in der Arbeit in Frage, „ob diese Intensität der Versorgung angemessen und den Patientenwünschen entsprechend ist“. Die Autoren führen an, dass in anderen entwickelten Ländern die ökonomischen Anreize für die Intensivmedizin weniger ausgeprägt sind, dort der Anteil derjenigen, die auf der Intensivstation versterben, geringer ist und mehr Wert (Struktur, Konzepte, Personal, Ausbildung) auf die Palliativmedizin gelegt wird.
X Ganz aktuell im Ärzteblatt die Meldung: Frau Corinna Rüffel, Grünen-Sprecherin für Behinderten-Politik, fordert gesetzliche Regelungen in Bezug auf die gleichberechtigte Chance auf Zugang zur lebensrettenden Therapie. Der Bundesregierung wird vorgeworfen, "verfassungswidrigen Empfehlungen Vorschub" zu leisten.
X Die Intensivmedizinische Vereinigung (DIVI) hat mit Beteiligung etlicher einschlägiger Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin…“ formuliert und explizit zur Diskussion gestellt (neben vielen ausführlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen in Notfallsituationen, die mittlerweile mehr oder weniger allgemein anerkannt sind):
….Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenom- men werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden. Es erfordert transparente, medizinisch und ethisch gut begründeter Kriterien für die dann notwen- dige Priorisierung. Ein solches Vorgehen kann die beteiligten Teams entlasten und das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement in den Krankenhäusern stärken. Die Priorisierungen erfolgen dabei ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern aufgrund der Verpflichtung, mit den (begrenz- ten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medi- zinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen.
Die Priorisierung von Patienten sollte sich deshalb am Kriterium der klinischen Er- folgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“ bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht. Vorrangig werden dann diejenigen Pa- tienten klinisch notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf) haben. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht muss für jeden Pati- enten so sorgfältig wie möglich erfolgen.Die Priorisierung soll immer
- zwischen allen Patienten, die der Intensivbehandlung bedürfen, erfolgen, un- abhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Notaufnahme, Allgemeinsta- tion, Intensivstation).
Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes
- nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten
- und nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien.
Hinweis: Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Gleichzeitig müssen Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Diese Empfehlungen beruhen auf den nach Einschätzung der Verfasser am ehesten begründbaren ethischen Grundsätzen….
—> am Ende des Papiers werden entscheidungsbegleitend diverse Befunde / Sachverhalte in Form von Flussdiagrammen angeboten. Und: ein Dokument, das der Sache Struktur und Transparenz geben soll.
X Meine eigenen persönlichen Erfahrungen aus 20 Jahren Kliniktätigkeit in Anästhesie und Intensivmedizin (seit 1982) sowie aus 17 Jahren Klinikmanagement:
xx Vor Jahrzehnten spielten differenzierte ethische Betrachtungen in end-of-life-Situationen eine deutlich geringere Rolle. M. E. oft zum Nachteil der Patienten. Entscheidungen wurden öfters „spontan oder nach Hierarchie der Therapeuten“ getroffen.
xx Ich habe nie persönlich eine Ressourcen-orientierte Entscheidung erlebt im Sinne: wem stellen wir die begrenzten lebensrettenden Ressourcen zur Verfügung?
xx Aber zunehmend: strukturierte und integrierte (Ärzte, Pflege, Angehörige, andere) Diskussionen mit dokumentierter und formulierter Entscheidung zum Vorgehen.
xx Zunehmende Bedeutung der Frage, was dem Patienteninteresse nahe komme und zunehmende Heranziehung von (leider meist immer noch fehlenden) Patientenverfügungen
xx Meine Wahrnehmung (und das bedauere ich persönlich): wenn es eine Tendenz gibt, dass die soziale Stellung eine Bedeutung hat, dann diese: In gut situierten „intakten“ Familien der oberen Mittelschicht nimmt die Verständigung darüber, was dem Schwerkranken in der Situation wohl am ehesten gerecht wird, den breitesten Raum ein. Tendenziell könnte man sagen: die bedachtsame / behutsame Begleitung dazu, was „würdiges Sterben“ sein könnte, ist eher mit privilegierter Lebenssituation verbunden. Die Karikatur, dass die Reichen die Beatmungsmaschine bekommen und die Armen bei der Zuteilung dieser wertvollen Ressource zu kurz kommen, ist eindeutig unzutreffend! Gerade gegen Ende des Lebens sind immaterielle / persönliche Ressourcen von großer Bedeutung, können jedoch nicht einfach kurzfristig „beschafft“ werden.
xx Routinemäßige Einrichtung klinischer Ethik-Komitees mit interdisziplinärer Besetzung ist in fast jeder größeren Klinik mittlerweile Standard.
…Fazit: der Umgang der invasiven Medizin mit Vorgängen bei anstehendem oder drohendem Lebensende ist in den letzten 30 Jahren deutlich besser geworden, aber immer noch mit Bedarf, noch mehr Menschen gerecht zu werden!
X Aktuelle Situation an etlichen Häusern, wo ich mit einigen Intensivmedizinern in Kontakt stehe:
xx An keinem einzigen Haus gibt es ICU-Engpässe; im Gegenteil: so viele freie Klinikbetten allgemein und ICU-Plätze speziell hat es seit Jahren nicht gegeben!
xx In vielen Häusern, die auch zahlreiche Covid-Fälle auf ICU haben, gibt es fast keine 80-Jährigen dort. Aber: es gibt keine explizite oder implizite Altersbeschränkung.
xx Die Covid-bedingte Zugangsbeschränkung der Angehörigen zur Intensivstation macht die Verständigung manchmal schwieriger (meist nur per Telefon)
xx Ein typischer Fall: ein über 70-Jähriger aus einer Pflegeeinrichtung mit einer gravierenden lange bestehenden körperlichen Behinderung und einer Covid-Pneumonie ist auf einer Intensivstation. Er ist derzeit der älteste dort. Aufgrund einer mentalen Einschränkung hat er eine Betreuung. Die physiologischen / pathologischen Voraussetzungen (Indikation!) für eine ICU-Aufnahme waren erfüllt. Deshalb wird er dort behandelt.
X Für mich auffällig in der aktuellen Diskussion:
xx Sehr große Spannbreite der Grund-Annahmen und Problemwahrnehmung (überspitzt):
xx Einerseits: Es wird viel zu viel und bedenkenlos und mit zweifelhafter Aussicht unnötig Intensivmedizin betrieben bei Menschen, denen sie nichts zu bieten hat und nur für ein unwürdiges Lebensende sorgt. Auch Gebrechliche werden einer inhumanen Maschinen-Prozedur unterzogen.
xx Andererseits wird befürchtet: den Gebrechlichen / Behinderten / Betagten werden verfassungswidrig Lebenschancen vorenthalten.
xx Für mich sind in etlichen Statements zu viel Empörung, zu viel Dampf, zu wenig Nachdenklichkeit.
Und: einmal mehr der „trendy“ Anlass Covid-19. Die Auseinandersetzung mit dem Lebensende und der damit möglicherweise verbundenen Rolle der Medizin und erst recht der Intensivmedizin ist ein strukturelles und chronisches Thema unserer Gesellschaft. Seit Jahren und hundertausendfach! Patienten mit der Diagnose Covid-19 werden auch im Jahr 2020 nur eine Minderheit auf unseren Intensivstationen darstellen. Es ist gut und sachgerecht, sich mit dem Thema allgemein und grundsätzlich zu befassen. Das geschieht ja auch. Die aktuelle Heftigkeit, die Lautstärke, die „Eindeutigkeit“ der Festlegung, wo das Problem liege und wie es zu lösen sei, wird womöglich der Situation nicht ganz gerecht, hilft den meisten Patienten und auch den beteiligten Pflegekräften und Ärzten nicht viel weiter.
xx Nochmals: Ein konkreter und womöglich hilfreicher Beitrag könnte sein, für sich und seine Angehörigen Patientenverfügung und Vollmachtserteilung zu initiieren.
xx Und: geeignete gesellschaftliche Aktivitäten / Maßnahmen sollten konkret im Vordergrund stehen, welche die umstrittenen „Triage-Situationen“ vermeiden. Das haben wir - vorläufig - in Bezug auf Covid-19 erreicht. Dazu gehört aber auch: den Zugang zur klinischen Versorgung denjenigen wieder mehr zu ermöglichen, die nicht das „Covid-Label“ tragen. Letztlich war das (durchaus begründete) Zurückstellen der „nicht dringlichen Behandlungen“ auch eine Triage-Entscheidung.
---> Wer sich interessiert: die erwähnten Stellungnahmen sind alle leicht zu finden im Internet.